Zitate - Brigitte Reimanns erste Eindrücke von Hoyerswerda

08.01.60
"Wir sind so gut wie ohne Bruch hier gelandet, und vorläufig finde ich es noch gräßlich hier. Gestern habe ich den ganzen Tag geheult vor Heimweh. Es ist schwer sich an so ein Riesenhaus zu gewöhnen, wo in jeder Wohnung gelärmt wird und irgendwelche Bälger brüllen. So schön wie bei uns zu Haus ist es nicht - trotz unserer eigenen Wohnung, die zwar sehr hübsch und ganz geräumig, aber furchtbar verdreckt ist." (S. 66)

12.01.60
"(...) Jetzt fühlen wir uns schon ein bißchen besser hier; man gewöhnt sich ja so rasch an eine neue Umgebung, und unsere Wohnung ist wirklich sehr hübsch (wenn sie in Burg wäre, fände ich sie einfach ideal), und am angenehmsten ist die Fernheizung. (...)
Von unserem Küchenfenster aus können wir eine Straße entlangblicken und zusehen, wie das Haus am Ende der Straße buchstäblich von einem Tag zum anderen um ein Stockwerk wächst. (Natürlich wird nur mit Großplatten und Kränen gearbeitet.) Es ist schon eine tolle Stadt - wenn sie bloß nicht so weit weg wäre von B.
Ich kann mich wirklich für H. begeistern - aber zu Hause werde ich mich hier nie fühlen, glaube ich. Eigentlich betrachte ich H. nur als eine Art Durchgangsstation, selbst wenn wir mehrere Jahre hierbleiben sollten. Richtig gernhaben werde ich H. wahrscheinlich erst viel später, wenn ich mal darüber schreibe und längst woanders wohne – aber das sind Spekulationen, die man heute noch nicht anstellen sollte. Wenn es dunkel wird, ist H. am romantischsten mit den vielen erleuchteten Fenstern und den Lampen in den breiten Straßen. (Gepflasterte Straßen gibt es kaum; unsere liegt noch voller Baugerümpel und Sandhaufen - aber in gewisser Weise ist auch diese Unaufgeräumtheit romantisch)."

21.01.60
"Die ersten Tage waren schlimm; ich war krank vor Heimweh und habe stundenlang geweint[...]. Wie ein eigensinniges Kind, habe ich nach Mutti gejammert (ich bin sechsundzwanzig, du lieber Himmel!).
Zuerst habe ich dieses Haus verabscheut, das einer Riesen-Bienenwabe gleicht, vollgestopft mit bedrohlich fremden Menschen und stets von Lärm erfüllt; ich hatte misanthropische Regungen, die nur entschuldbar sind, wenn man die idyllische Ruhe bedenkt, die unser Stadtrandhaus umgab, und das immerwährende Zusammensein mit vertrauten geliebten Menschen.
Diese ganze Stadt Hoyerswerda war mir unsympathisch in ihrer aufdringlichen Neuheit (obgleich ich recht gut weiß, was die schönen, komfortablen, sonnigen Wohnungen für unsere junge Stadt und für die Bewohner bedeuten, die zum größten Teil aus engen und beengenden Verhältnissen kommen); sie hat keine Tradition, keine Atmosphäre, sie ist nur modern. Gewiß ist dies nicht ohne Romantik - aber es ist 'ein Ding', für einen Tag schwärmerisch besichtigend durch die von Balken und Bauschutt unebenen Straßen zu wandeln, und es ist ein 'ander Ding', selbst in dieser Stadt zu wohnen, als einer unter Tausenden." (S. 70)

03.02.60
"(...) Wenn hier bloß nicht immer so weite Wege zurückzulegen wären! Die Entfernungen vom Kombinat zur Neustadt und gar erst zur Altstadt, das ewige Warten auf einen Bus (manchmal fahren sie einfach vorbei, und man kann eine Stunde lang stehen) - das ist alles verlorene Zeit." (S. 71)

14.02.60
"Wieder - oder noch immer - verstimmt, nervös, aufgebracht gegen jeden und alles. Verfluche das Nest und die Idee, hierherzukommen - und weiß dabei, daß ich übermorgen oder nächste Woche wieder beglückt sein werde, durch irgendein nichtiges Erlebnis, die Begegnung mit einem Menschen, der mir gefällt." (S. 73)

10.07.60
"Der Brief wird niemals fertig, wenn ich nicht diesen friedlichen Sonntagmorgen benütze (friedlich..., in der Zwischenbelegung röhren die Tonbänder, arbeitsame Väter verprügeln ihre Sprößlinge für alle in der Woche begangenen Schandtaten, und auf dem Kinderspielplatz - direkt unter den Fenstern unserer Arbeitszimmer – schlagen sich die jüngsten Pumpenkumpels...)." (S. 84)

Elten-Krause, Elisabeth/ Lewerenz, Walter: Brigitte Reimann in ihren Briefen und Tagebüchern