Zitate - Brigitte Reimann über ihren Roman Franziska Linkerhand

24.02.63
"(...) Der Titel für meinen neuen Roman... Ich kam mit einem alten Fahrer von der Defa, wir fuhren auf dem weg nach Senftenberg (...), und er sagte: „Jetzt kommen wir in die Zone des schwarzen Schnees.“ (...) Auf einmal zündete es bei mir, ich war aufgeregt: das kann der Titel sein. „Singend im Regen“ ist schön, aber Quatsch, weil beziehungslos.
Aber dies: SCHWARZER SCHNEE.

[...] Und auf einmal weiß ich auch viel mehr über mein Buch: die Stadt, die Leute, die Tristesse, das Heldentum (oder was wir so nennen), Ruß auf dem Schnee, und das provisorische Leben, (...), dieses Gefühl, auf gepackten Koffern zu sitzen: hier wird ein Werk, eine neue Stadt gebaut, und in [...] fünfzig Jahren, wenn’s hochkommt, ist hier eine Seenplatte, und unsere Enkel lachen: Braunkohle? Antiquiert. Hoch die Atomkraft!" (S. 300)

12.11.63
"Hamburger, der Chefarchitekt, war bei mir. Er war liebenswürdig, bereit zu erzählen, mir bei meinem Buch zu helfen (...). H. ist ein müder, alter Mann [...]. er sagt, er habe sich vorgestellt, er werde eine wunderschöne Stadt bauen und später, wenn er alt ist, zuweilen aus Dresden rüberkommen, die Straßen entlanggehen und in seiner Stadt Kaffee trinken.
Die Mittel für die zentralen Bauten sind rigoros gestrichen worden. Während des Gesprächs mit ihm habe ich mein Buch umprojektiert (und wie oft werde ich das noch tun?): Franziska ist keine 'Schlacht unterwegs'-Heldin; sie kommt voll strahlender Pläne in diese Stadt, in der man nichts verlangt als nüchternes Rechnen, schnelles und billiges Bauen. Kein Platz für persönlichen Ehrgeiz – eine Namenlose in einem Kollektiv, dessen Heldentum darin besteht, daß man nach langem Tüfteln an der Korridorwand drei Zoll einspart. (...) Wohin sind am Ende die leidenschaftlichen Entwürfe der Jugend? Man hat die Welt nicht aus den Angeln gehoben. Und, schrecklicher Gedanke: Wo ist die flammende Liebe? Erstickt in einer konventionellen ehe, im gemeinsamen Badezimmer, zwischen Wäschewaschen, Fernsehen und dem 'was essen wir morgen?'
[...] Berlin, ein Abend bei Henselmann. er hatte seine ganze Arbeitsgruppe eingeladen, begabte junge Leute, die jetzt auf verschiedene Projektierungsbüros verteilt worden sind, wo ihnen die Arbeit keine Befriedigung gibt. H.s Schuld? Er hat ihnen den Traum von der großen Baukunst mitgegeben – und sie zeichnen Türen." (S. 360)

Reimann, Brigitte: Ich bedaure nichts. Tagebücher. 1955-1963

24.10.64
"(...) Vorgestern war Wagner hier, der neue Chefarchitekt der Stadt. Es hat also doch genützt, daß wir Geschrei erhoben haben. Er ist Henselmann-Schüler, hat auch mit ihm am 'Haus des Lehrers' gearbeitet, hat aber kritische Distanz zu ihm, nachdem er, wie ich, anfangs heftig für ihn geschwärmt hat. Er will hier so eine Schlägertruppe sammeln, zu der ich auch gehören soll, um durchzusetzen, was bisher nicht möglich war. (...) Er scheint sehr energisch zu sein, vielleicht mit Hang zur Despotie. Das gefällt mir. (...) Er rennt herum und sucht die Verantwortlichen – vergebens. Ich mußte lachen: genauso erging es mir damals. Aber der setzt sich durch, er hat feste Pläne und breite Schultern und genau die nötige Dosis Arroganz, um mit unserem Dorfbürgermeister und den Funktionären fertig zu werden. (...) Den Typ brauche ich für mein Buch [...]. (...)
Er hat mir auch das Bild von H. deutlicher gemach, diese verklemmte Genialität, die maßlose Eitelkeit und Rechthaberei, die ignoriert, daß dieser Typ des Architekten, der Kunst macht ohne Ökonomie und Mathematik, passé ist – auch das ist wichtig für den Reger im Buch." (S. 93)

24.07.65
"(...) Gespräch mit jungen Architekten in Wagners Büro. Sie haben in Weimar ihr Diplom gemacht, werden auch in Weimar arbeiten. Hoy ist ihnen zu trist. Sie haben keine Illusionen, keine Ideale. Der eine ist Architekt geworden, weil halt gerade ein Studienplatz frei war, der andere, weil er gut zeichnen kann. [...] Sie sind kritisch, glauben aber von vornherein, daß man doch nichts ändern könne. Die Alten ... die industrielle Bauweise ... unsere Entwürfe verschwinden in der Schublade ... man gibt uns doch keine Verantwortung. Fünf Leute, und keiner von ihnen besessen von Ehrgeiz, dreiundzwanzigjährig - und sie haben sich schon abgeschrieben und aufgegeben. Irgendwas muß man halt arbeiten.
Arme Franziska." (S. 155)

Reimann, Brigitte: Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970

02.12.63, Hoy[erswerda]
"Bester Professor Henselmann,
(...) Inzwischen  habe ich den Chefarchitekten von Hoy kennengelernt und einiges aus seiner Arbeit erfahren. Falls mein Buch-Mädchen Franziska in diese Stadt verschlagen wird, schreibe ich den traurigen Roman von verlorenen Illusionen. (...)
Ihre Brigitte" (S. 28)

Kirschey-Feix, Ingrid (Hrsg.): Brigitte Reimann/ Hermann Henselmann.  Mit Respekt und Vergnügen – Briefwechsel